"Ohne die Perestrojka wären wir nicht hier"

Einer der Höhepunkte war ein Besuch bei Oberstaatsanwalt i.R. Dr. Hans Maibach

RAVENSBURG (ka) - Vor einigen Jahren noch hätten sie einander als Feinde empfunden, ja eine Begegnung wäre wohl gar nicht möglich gewesen. Heute, nach Michail Gorbatschows breitangelegtem Versuch der Perestrojka, einer umfassenden Umgestaltung der Wirtschaft und Ideologie, der Wissenschaft und des kulturellen Lebens, können selbst Richter, Rechts- und Staatsanwälte der UdSSR in den einst feindlichen Westen reisen und Kontakte zu ihren "kapitalistischen" Kollegen knüpfen. So wie sich jetzt eine zwölfköpfige Juristen-Gruppe aus Brest, der weißrussischen Partnerstadt der Schussental-Städte und -Gemeinden Ravensburg, Weingarten, Baienfurt, Baindt und Berg, bei uns aufhält, um Land und Leute kennenzulernen. Initiator des Juristentreffens war der Vizepräsident des Ravensburger Landgerichts, Dr. Rittmann, als Gastgeber fungierten die örtlichen Richter- und Anwaltvereine.

Das umfänghche Programm ließ genügend Gelegenheit zu persönlichen, fachlichen Gesprächen. Doch einer der Höhepunkte des Treffens hatte mit der Juristerei weniger zu tun als mit der Kunst, der bildenden. In Begleitung ihrer oberschwäbischen Gastgeber statteten die Juristen aus Brest dem früheren Ravensburger Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Hans Maibach in dessen idyllisch gelegenem Bodnegger Haus einen Besuch ab. Maibach, 15 Jahre lang Oberster Anklagevertreter Oberschwabens, ist nicht nur ein bekannter Jurist - der im August 63jährige hat auch als Maler Rang und Namen, ja unmittelbar nach dem Krieg sicherte sich der gebürtige Oberschlesier durch Malen und Ausstellungen den Lebensunterhalt. Und weil Maibach in einer "Galerie auf Zeit" in seinem Bodnegger Heim soeben eine Ausstellung mit Arbeiten aus den jüngsten Jahren vorbereitet (Eröffnung im September), fand sich ein idealer Rahmen für eine deutsch-russische Begegnung.

Der Hausherr berichtet hellauf begeistert von diesem Abend. Es habe sehr offene, auch politische Gespräche gegeben, und die Juristinnen und Juristen aus Brest hätten sich in hohem Maße interessiert und überdurchschnittlich kunstverständig gezeigt Maibach wurde vom Delegationsleiter Baseley, einem stellvertretenden Bezirksbürgermeister aus Brest, sogar eingeladen, seine Bilder in der weißrussischen 280 000-Einwohner-Stadt auszustellen.

Staunend vernahmen es die Sowjets, welche Freiheit die Kunst in der Bundesrepublik genießt und daß die Freiheit nicht einmal durch ein Gesetz eingeschränkt werden könnte, wie Dr. Maibach den Berufskollegen aus Brest erläuterte. Und auch was die politische Grundhaltung seine Gäste betrifft, gewann Dr. Maibach den besten Eindruck: "Alle stehen hinter Gorbatschows Perestrojka. Alle sagten, wir wären ohne die Perestrojka nicht nach Deutschland gekommen." Auch die Ausreise-Praktiken in der UdSSR werden mittlerweile offenbar freizügiger gehandhabt. Nur ein Jurist aus Brest, so war es zu hören, habe die Reise nach Oberschwaben nicht mitmachen dürfen - weil er im Verdacht steht, immer noch Stalinist zu sein.